Deutschlands Trauma

Es war im Spätsommer 1986, dass ich Reymundo Tigre Perez, einem Schamanen vom mexikanisch-texanischen Stamm der Purhepecha begegnete. Er war der Kopf einer Bewegung, die sich Kanto de la Tierra (Gesang der Erde) nannte und Stammesälteste, Häuptlinge und Schamanen von vielen indigenen Stämmen Nord-, Süd- und Mittelamerikas vereinte. Ihr Ziel war es, einen Versöhnungsprozess der Indigenen Amerikas mit den Weißen in Europa in Gang zu setzen und zu diesem Zweck eine Reise einer Gruppe von Ältesten nach Europa zu organisieren. Tigre, der mein Freund wurde, bereiste deshalb immer wieder mehrere europäische Staaten und knüpfte Kontakte. Einer, der auch mit ihm zusammenarbeitete, war der deutsche Autor Frank Geerk. Er reiste ins „Innere Amerikas“, wie er es ausdrückt, und schrieb darüber. „Das Ende des Grünen Traums“ erschien 1987, also ein Jahr nach meiner Begegnung mit Tigre. Mehrere der Protagonisten des Buches kenne ich persönlich.

Was hat nun das alles mit meinem Thema zu tun? In dem Buch gibt es eine Passage, die ich abfotografiert habe und hier anhänge. Es beginnt auf Seite 168 mit den letzten 7 Zeilen und endet mit dem ersten Absatz auf Seite 172. Was da erklärt wird, brachte mich erstmals dazu, über unsere Geschichte auf andere Weise nachzudenken, als ich es in der Schule gelernt hatte und als es immer noch üblich ist.

Wenn ich übrigens in diesem Text das Personalpronomen „wir“ benutze, so meine ich damit die Erben und Nachfahren derjenigen Deutschen, die die Zeit des Nationalsozialismus nicht als Opfer erlebt haben, sondern als Täter, Mitläufer aller Grade oder auch Gegner des Regimes. Über das, was die Nachfahren der Opfer in sich tragen, wage ich nicht, mich zu äußern, auch wenn ich vermute, dass es da mehr Gemeinsamkeiten gibt, als bei oberflächlicher Betrachtung zu erwarten wäre.

Seit 80 Jahren beschäftigen wir Deutschen uns freiwillig oder verordnet mit Aufstieg und Fall Adolf Hitlers und der Nationalsozialisten und dem Unheil, das sie angerichtet, den Verbrechen, die sie begangen haben. Wenn wir an Deutschland denken, steht da unsere Geschichte zwischen 1933 und 1945 – oder vielleicht auch schon ab 1923 –  immer noch wie der berühmte Elefant im Raum, um den man nicht herumkommt. Oder vielleicht ist der Elefant eher ein großer schwarzer Krater, um ein Bild zu benutzen, das ich von Lea Hamann (siehe ihr Kanal auf YouTube!) übernommen habe. Dieser große schwarze Krater macht immer noch Angst, und niemand will mit dem in Verbindung gebracht werden, was aus diesem Krater kroch und kriecht. Denn „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ (B. Brecht, Arturo Ui)

Wir haben gelernt, uns mit diesem Trauma zu identifizieren: Deutschland – das ist dieses Schreckliche und wird es immer sein. Wenn ich als Individuum ein Trauma erlitten habe – ich selbst wurde z.B. als Kind missbraucht, ein Schicksal, das ich mit vielen teile –, so kann ich das in einer Therapie bearbeiten und lernen, dass ich nicht mein Trauma bin. Ich bin viel mehr, und das Trauma ist nur eine Episode in meinem Leben, wenn auch eine, die lange Zeit großen Einfluss hatte. Als Erben und Nachfahren derer, die  zwischen 1933 und 1945 als Deutsche hier lebten und nicht Opfer wurden, haben wir diesen Schritt bisher nicht getan. Wir können oder dürfen nicht sehen, dass Deutschland (oder früher die deutschsprachigen Länder) viel mehr ist als das große schwarze Loch. Es gelingt uns nicht, kollektiv ein gesundes Verhältnis zu unserem Land zu entwickeln – und freilich gibt es, wie immer, die, die davon profitieren – und wahrzunehmen, was Deutschland noch ist und war.

Dem leistet Vorschub eine Sprachverwirrung, die m.E. gefördert wird, ob bewusst oder unbewusst, vermag ich nicht zu sagen. Ich meine die Verwechselung von Schuld und Verantwortung. Ich bin 1952 geboren. Menschen meiner Generation und alle jüngeren tragen keine persönliche Schuld. Wir tragen Verantwortung dafür, dass sich die Katastrophe nicht wiederholt, gewiss. Aber wir sind nicht schuld an dem, was damals geschehen ist. Aber da ist dieser schwarze Krater, der uns immer noch Angst macht, weil wir nicht gelernt haben, uns von ihm zu distanzieren und ihn zu sehen als das, was er ist: eine furchtbare Episode in der Geschichte Deutschlands, nicht mehr und nicht weniger. Wir fühlen uns noch immer beschmutzt von dieser Schwärze, und um ja nicht mit ihr in Verbindung gebracht zu werden, brauchen wir immer jemanden, auf den wir mit dem Finger zeigen können: Seht den da, der ist es, der aus dem Krater kam – wahlweise Putin, Trump, derzeit die AfD und die FPÖ. Und dieser Reflex macht uns blind für das, was da wirklich geschieht. 

Ich möchte erinnern an das berühmte Zitat von Ignazio Silone (italienischer Schriftsteller, 1900 bis 1978): Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: „Ich bin der Faschismus.“ Nein, er wird sagen: „Ich bin der Antifaschismus.“ (berichtet in François Bondy, Pfade der Neugier, Porträts, Einsiedeln 1988)

Wir sind noch immer fasziniert von dem großen schwarzen Krater. Und unsere ungeklärte Beziehung zu unserer Vergangenheit macht uns unfähig zur Zukunft. Unser politisches Denken hat sich im Laufe der Jahrzehnte erschöpft. Trauma erstickt Kreativität. Wir finden im sog. demokratischen Spektrum keine Ideen mehr, mit deren Hilfe wir unsere multiplen Krisen lösen könnten. Wir drehen uns im Kreis. Und wenn jemand es wagt, unsere Faszination in Frage zu stellen, reagieren wir panisch und verteufeln ihn, wie möglicherweise hilfreich seine Konzepte auch immer sein mögen. Man will ja unbedingt gut sein und darf sich darum mit denen da, die aus dem Krater gekrochen kamen, keinesfalls nur im Geringsten gemein machen. Kurz: Das unerlöste Trauma fliegt uns um die Ohren. Schau hin, hör zu, jedem, und entscheide selbst, wo die Wahrheit ist!

So k0nnte es dazu kommen, dass ein Minister der Bundesrepublik sagt, er habe mit Deutschland noch nie etwas anfangen können und fände Patriotismus zum Kotzen. Ich möchte dagegenstellen: Patriotismus ist die Selbstliebe der Völker. Und so, wie ich als Individuum meine Traumata heilen kann und mich schließlich mit meiner Vergangenheit versöhnen und Frieden schließen kann mit mir, wie ich nun einmal geworden bin, mich selbst lieben und wertschätzen mit meinen Stärken und Schwächen, so sollten wir das als Volk auch tun. Wir wissen inzwischen genug über Traumaheilung. Wir könnten erkennen, dass unsere bisherige Praxis, da es kein Jenseits-davon, kein Darüber-hinaus geben durfte, nichts Gutes erreichen konnte, sondern eventuell sogar eine Art Retraumatisierung verursacht hat. Wir können uns durch unser Trauma hindurcharbeiten, bis wir die gute Essenz Deutschlands wieder wahrnehmen können – was wir uns dann auch erlauben dürfen. Dann könnten wir den derzeitigen Marasmus hinter uns lassen und friedensfähig nach innen und außen werden und ein wahrhaft demokratisches Gemeinwesen verwirklichen.