Weißbeerige Mistel

Die weißbeerige Mistel  Viscum album L.)

In der Weihnachtszeit ist die weißbeerige Mistel allgegenwärtig. Aus dem Angelsächsischen kommend, ist sie heute auch aus dem Weihnachtsbrauchtum hierzulande nicht  mehr wegzudenken. Viele hängen einen Zweig über die Tür und küssen sich darunter – oder sie verwenden ihn nur als Dekoration.

Die Mistel ist eine ganz und gar ungewöhnliche Pflanze. Sie blüht in der Zeit von Januar bis April und fruchtet im Winter, im November/Dezember. Ihre Samen werden von Vögeln, z.B. Eichelhähern, verbreitet, die die Früchte fressen, aber die Samen nicht verdauen können und sie darum mit dem Kot ausscheiden. Wenn ein Same auf dem Ast eines geeigneten Wirtsbaums mit noch junger Rinde liegen bleibt, bildet der Same zunächst eine Haftscheibe aus und dann Senker, die in den Ast eindringen, bis sie die Leitungsbahnen erreichen. Erst dann entwickelt sich der sichtbare Teil der Mistel. Die Mistel betreibt auch selbst Photosynthese; d.h. sie braucht von ihrem Wirt eigentlich nur Wasser und Mineralien. Sie ist ein Halbschmarotzer. Sie kann ihren Wirt umbringen, sie unterstützt ihn andererseits aber auch dabei, mit Strahlung aus dem Untergrund fertigzuwerden, z.B. wenn der Baum über einer Wasserader steht.

Die Mistel ist immergrün. Die Pflanzen entwickeln im Laufe der Jahre eine kugelige Gestalt mit einem Durchmesser von bis zu einem Meter. Die Sprossen verzweigen sich in gleichförmigem Rhythmus gabelig immer in zwei (oder manchmal mehr) neue Sprossteile. An den Enden der Sprossachsen sitzen gegenständig ungestielte Blätter, die abfallen, wenn das nächste Sprosspaar austreibt.

In den obersten Blattachseln sitzen die Blüten, immer zu dreien oder fünfen beisammen. Die Mistel ist zweihäusig, wobei männliche und weibliche Pflanzen oft auf demselben Ast wohnen. Die männlichen Blüten leuchten golden und duften intensiv nach schwarzen Johannisbeeren oder Kiwi. Die Staubblätter besitzen keine Staubfäden, sondern die auf der Rückseite mit den Blütenhüllblättern verwachsenen Staubbeutel öffnen sich mit vielen Poren. Auch die Blätter der männlichen Pflanzen zeigen einen goldenen Grünton. Die weiblichen Blüten sind unscheinbarer und duften kaum. Die Blütenanlagen sind bereits im Juli fertig da, öffnen sich aber frühestens im Januar des folgenden Jahres; die Früchte brauchen dann bis zum Herbst, bis November meist, zum Reifen. Der Zyklus der Mistel geht also über zwei Jahre. Die Früchte bestehen aus einer dünnen, durchscheinenden Außenhaut, durch die man die Keimlinge innen (meist zwei oder drei, selten vier) sehen kann. Das Fruchtfleisch enthält Schleim- und Leimstoffe; letztere sorgen dafür, dass das, was Vögel nach ihrer Mahlzeit davon wieder ausscheiden, auf dem Ast kleben bleibt, wo der Keimling dann gegebenenfalls einen Senker bilden und zu  einer neuen Mistel heranwachsen kann. Die Embryonen und das restliche sie umgebende Nährgewebe sind grün, und so kann der Keimling sofort Photosynthese betreiben, sobald er auf einem Ast einen Senker gebildet hat. Der Durchgang durch das Verdauungssystem des Vogels ist aber für die Keimfähigkeit nicht nötig. Der Leim gab der Pflanze den botanischen Namen Viscum, vom lateinischen Wort für Leim (das Wort Viskosität ist davon abgeleitet, z.B.). Früher wurde dieser Leim aus den Beeren zur Herstellung von Vogelleim zum Fangen der Vögel benutzt. Mistel lassen sich leicht im Wildgarten ansiedeln: es ist nicht mehr nötig, als eine reife Beere auf einen geeigneten Ast zu kleben.

Es gibt viele verschiedene Mistelarten; in Mitteleuropa gedeiht nur die Weißbeerige Mistel. Sie wächst auf verschiedenen Laubbäumen: Apfelbäume, Linden, Pappeln, Weißdorn, Birke, Eberesche, Ahorn, Birnbaum, Pflaumenbaum u.a.; aber auch Kiefern, Tannen und Fichten können ihr als Wirt dienen. Beeren von Laubbaummisteln keimen nicht auf Nadelbäumen und umgekehrt.

Inhaltsstoffe sind Polysaccharide, biogene Amine, Flavonoide, Phenolcarbonsäuren u. a. sowie die Mistellektine und Viscotoxine. Die beiden letzteren zeigen eine interessante Verteilung in der Pflanze: Die Senker enthalten nur Lektine, die Sprossen beide in unterschiedlicher Mischung, je weiter außen an der Peripherie der Pflanze, desto mehr Viscotoxine und desto weniger Mistellektine. Beide Stoffe sind giftig, wenn man sie subcutan spritzt. Bei der Verdauung wird die Giftwirkung jedoch abgebaut. Tiere essen im Winter gern Misteln, und selbst Menschen haben sie in Notzeiten zur Nahrung genutzt, z.B. zu Mehl zerstoßen in Brot gebacken.

Die Mistellektine haben ihr Konzentrationsmaximum um die Zeit der Wintersonnenwende, die Viscotoxine um die Sommersonnenwende.

Misteltee und Extrakte aus der Pflanze werden innerlich bei Kreislaufproblemen verwendet und die Extrakte als intracutane Injektion bei entzündlichen und degenerativen Gelenkserkrankungen. Besonders wertvoll aber ist die Pflanze in der Krebstherapie. Auf diese Verwendung machte Rudolf Steiner erstmals aufmerksam, und die anthroposophische Medizin hat heute viele verschiedene Präparate von verschiedenen Wirtsbäumen zur Verfügung zur begleitenden Krebsbehandlung, zur Prophylaxe und zur Therapie im Frühstadium. Daneben gibt es noch viele andere Indikationen. Übrigens finden sich Rezepte zur Anwendung der Mistel bei verschiedenen Leiden schon bei Hildegard von Bingen. Mit ihnen haben Ärzte unserer Zeit wieder gute Erfahrungen gemacht.