Der Drache Serpentin – Fortsetzung
Und der Drache sprang auf, umrundete Kunibert mehrmals, fand die Verschlüsse auf der Rückseite der Rüstung und biss sie mit seinen scharfen, schneeweißen Zähnen durch. Die Eisenteile fielen von Kunibert ab, und er fühlte sich so erleichtert und befreit, dass er vor der Prinzessin aufs Knie sank, ihr die Hand küsste und ihr seine Dienste anbot. „Wenn du in meinen Dienst treten willst“, sagte sie leise, aber bestimmt, „so sei mein Liebster. Als Paar können wir allen Menschen dienen. Und danke nicht mir, sondern Serpentin!“ Sie bot ihm ihren Mund, und er umschlang sie mit den Armen und küsste sie.
Als sie sich voneinander lösten, wurde Kunibert bewusst, dass er nun, da seine Rüstung abgefallen war, völlig nackt dastand. Er schämte sich. Nimue aber tröstete ihn und versprach: „Wenn du mit mir gehst in mein Reich hinter den Bergen, nähe ich dir ein herrliches neues Gewand, in dem du dich viel wohler fühlen wirst als in jedem, das du bisher trugst.“ Kunibert vertraute ihr. Und so holte er sein Pferd aus dem Stall, eine kräftig gebaute schwarze Stute, die Flocke hieß, wegen des weißen Flecks auf ihrer Stirn. Er sprang auf ihren Rücken, hob Nimue zu sich herauf, pfiff seinem Hund, und dann zogen sie zu fünft, Serpentin voraus, zum Tor hinaus.
Als sie gerade den der Burg gegenüber liegenden Hügel hinaufritten, hörten sie mit einem Mal einen Lärm hinter sich. Sie drehten sich um, und da: Die Burg stürzte mit Getöse in sich zusammen und verschwand in einer riesigen Staubwolke. Als die sich gelegt hatte, war von der einst so wehrhaften Festung nichts mehr zu sehen.
Zu seiner eigenen Überraschung bedauerte Kunibert das nicht und zog frohgemut mit seiner Liebsten und den Tieren weiter.
Nach einer Weile gelangten sie in einen großen, dichten Wald. Darin wuchsen die verschiedensten Bäume, Sträucher und Kräuter. Und hier war es, dass Nimue sich ans Werk machte. Sie sammelte Blätter. Serpentin schnupperte auf dem Waldboden herum und fand lange, dünne Wurzelfäden, die als Nähgarn dienen konnten. Und als Nimue genügend Blätter und Fäden beisammen hatte, fertigte sie daraus ein grünes Gewand für Kunibert, das ihm – wie hätte es anders sein können – wie angegossen passte und ihn schöner aussehen ließ als je zuvor. Das abgeworfene Geweih eines Rehbocks wurde seine Krone. „So, jetzt bist du voll und ganz mein Liebster. Wie fühlst du dich?“ fragte Nimue. „Wie im Traum,“ antwortete er, „ganz fremd noch und ganz richtig zugleich.“ „Gut,“ befand sie, „dann können wir unseren Weg fortsetzen. Aber vorher möchte ich dir noch einen neuen Namen geben, wenn du einverstanden bist. Von nun an sollst du Merlin heißen.“ Der Täufling gab zu verstehen, dass er den Namen annahm, indem er Nimue küsste.
Und dann zogen sie weiter. Es gab noch einige Berge zu überwinden, ehe sie in eine weite Ebene gelangten und schließlich ans Ufer des Meeres. In einiger Entfernung vor der Küste war eine bewaldete Insel zu sehen. „Dort wollen wir hin. Dort ist das Schloss meiner Mutter,“ erklärte Nimue.
Serpentin flog hinüber – schneller als die beiden Verliebten gucken konnten. Für sie und Flocke und Smello fand sich ein Boot am Ufer, auf dessen Bug ein Rotkehlchen saß. Als die vier in dem Boot Platz nahmen, flog der Vogel auf und zur Insel hinüber. Und so kam es, dass sie schon erwartet wurden, als sie sie erreicht hatten. Nimue stellte Merlin ihrer Mutter, der alten Königin, vor, die ihn herzlich willkommen hieß. Am Abend wurde ein Fest gefeiert, das alle an Leib und Seele labte und beglückte. Und die Königinmutter segnete ihre Tochter und den Mann, den sie sich erkoren hatte.
Und indem sie sich miteinander verbanden, wurden sie zum Segen für alle, denen sie begegneten. Serpentin war immer bei ihnen. Nur wenige sahen ihn, wenn sie aufs Festland übersetzten, um Menschen zu besuchen, die ihren Rat oder ihre Hilfe erbaten. Die Tiere aber erkannten ihn immer.
Und da sie nicht gestorben sind, leben sie dort noch heute.