Nahrung fürs Gemüt
Im schönen Tübingen, der Stadt, in der zu wohnen ich das Privileg genieße, gibt es am Samstagabend die „Motette“ in der Stiftskirche. Es handelt sich um eine Form des Gottesdienstes mit einer immer gleichen minimalistischen Liturgie und darum herum viel Musik. Da es ein Gottesdienst ist, darf die „Motette“ weiterhin stattfinden – wie (fast) jeden Samstag seit 1946, gestern zum 3033. Mal. Ich war gestern dort. Die ausgewiesenen Plätze waren voll besetzt (freilich viel weniger als unter gewöhnlichen Umständen). Alle saßen sehr in sich gekehrt, als wollten sie allein sein, mit Maske. Aber wir waren zusammen in diesem wunderbaren Raum und teilten die Erfahrung der Musik. Und wenn wir auch nicht in Kontakt traten miteinander, so teilten wir doch das Schwingungsfeld, die Schwingung der Musik, der Liturgie und jedes Einzelnen, der da saß. Dazu der Predigttext aus der Offenbarung des Johannes Kap. 21, der in dem Satz gipfelt: „Siehe, ich mache alles neu.“
Es gibt derzeit im Internet viele Möglichkeiten, Konzerte zu hören, Filme zu sehen, Lesungen, Theateraufführungen usw. Und das ist schön. Aber es ist nicht dasselbe. Nicht einmal entfernt dasselbe wie selbst diese kontaktreduzierte Veranstaltung gestern Abend. Gemeinschaft, gemeinsames Erleben ist lebenswichtig. Und es ist nicht gut, darauf verzichten zu müssen. Wir hungern, wir trocknen aus, wir verarmen, unser Gemüt darbt.
„Siehe, ich mache alles neu.“ Vielleicht gehört zu dem Neuen neben vielem anderen, das not-wendig ist, auch, dass wir neu schätzen lernen, was uns unser vor der Krise reiches Kulturleben bedeutet, und dass wir uns dafür einsetzen, dass es nicht trockengelegt und weggefegt wird.