Mutter (?) Erde
Unsere frühen Vorfahren sahen – ebenso wie manche alten Völker heute noch – in der Erde die Mutter alles Lebendigen. Auch unter uns westlichen Rationalist*innen gibt es mehr und mehr, die sich darauf besinnen. Und es ist bis heute üblich, vom Mutterboden zu sprechen, wenn wir die humose Erdschicht meinen, in der Pflanzen wachsen können und Bodenlebewesen wie Regenwürmer usw. zu finden sind.
Was würde sich für Dich verändern, wenn die Erde ein lebendes Wesen wäre, ein geistiges Wesen mit einem physischen Körper, auf dem und von dem wir leben? Wenn sie, im Zusammenwirken mit den kosmischen Kräften, diesen Raum aufgespannt hätte, die Biosphäre, in dem wir leben, und ihn erhält?
Was, wenn Du sie als göttlich wahrnähmest, als heilig? Würde das etwas verändern?
Du bist ein geistiges Wesen mit einem physischen Körper. Was an Dir Geist ist, können andere mit ihren physischen Augen in der Regel nicht sehen; dennoch würde niemand Dir streitig machen, dass Du mehr bist als Dein Körper. Sollte es sich mit der Erde ebenso verhalten?
Du bist heilig. Und Deine körperliche Unversehrtheit gilt als hohes Rechtsgut in unserem Gemeinwesen. Warum gestehen wir das der Erde nicht zu? Weil wir dann nicht weitermachen könnten wie bis hierher?
Viele Lebensformen haben sich schon verabschiedet, weil die Erde ihren spezifischen Lebensraum unter unserem menschlichen Einfluss nicht mehr aufrechterhalten konnte. Wollen wir wirklich die Erfahrung machen, dass es mit unserem eigenen auch so weit kommt? Oder entscheiden wir uns für eine andere Erfahrung? Und warum nehmen wir uns überhaupt das Recht heraus, über den Lebensraum anderer Seinsformen zu entscheiden?
Unser Weiterleben hier auf der Erde entscheidet sich meiner Wahrnehmung nach nicht an unserem technologischen Fortschritt. Sondern zuerst brauchen wir einen spirituellen „Fort-Schritt“. Wir dürfen – nach allen möglicherweise unabwendbaren und sogar bedeutsamen Umwegen – unseren Platz im Geflecht des Lebens wieder finden, anerkennen, einnehmen. Alles andere folgt daraus.
Wir müssen nicht in voraufklärerische Geisteshaltungen zurückfallen, um die Erde wieder als unsere Mutter und ein heiliges Wesen anzuerkennen. Wir müssen dazu nicht über Bord werfen, was uns die Wissenschaft geschenkt hat und weiter schenken wird. Wir können aber auch ihr wieder den Platz geben, der ihr gebührt, und sie nicht als Ersatz-Gott verehren. Das überfordert sie nämlich. Es mag sein, dass Anatomen die menschliche Seele bei ihrer Arbeit nicht finden, und das mag Geologen oder Geophysikern bei der Untersuchung der Erde auch so gehen. Aber das ist eine Frage der Wahrnehmung, der Methoden, der Vorannahmen und Fragestellungen, und nicht eine Frage absoluter Wahrheit.
Willst Du also das Heilige in Deine Welt wieder integrieren? Willst Du die Erde wieder Deine Mutter nennen – und sei es im metaphorischen Sinne – und ihr Achtung zollen? Wo fängst Du dann an? Begrüßt Du sie morgens, wenn Du aufstehst. Dankst Du ihr abends für diesen vergangenen Tag? Gibst Du ihr etwas, wenn Du von ihr genommen hast? Und was fühlst Du dabei?
Ich glaube, es ist ein bisschen so wie in der Geschichte vom verlorenen Sohn (Lk 15, 11-32). Wir sind in Gefahr zu verprassen, was sie uns als unser Erbteil geben will. Sie sucht aber nicht Rache und Strafe, sondern unsere Heimkehr.